Sind wir nicht alle Robinhooders?

«Help yourself» ist nichts Neues. Früher oder später wird jedem bewusst, dass in unserem gesellschaftlichen System Eigenverantwortung an erster Stelle steht. Das ist auch gut so. Es ist aber auch gut, dass unser System Mechanismen vorsieht um Härtefälle zu verhindern oder im Ereignisfall solche zu unterstützen.

Obschon unser System im Einzelfall in den meisten Fällen unverändert tragfähig ist, wird es zunehmend offensichtlich, dass im Kollektiv das System zunehmend überfordert ist. Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass sich das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich und damit eine ausgewogene Einkommens- und Vermögensverteilung über viele Jahre zuungunsten der weniger Vermögenden entwickelt hat. Mit etwas unterschiedlicher Ausprägung sind davon alle westlichen Länder betroffen.

Die Covid-19 Pandemie hat diesen Trend weiter verstärkt. So sind es eher die einkommensschwachen Jobs, die von den Lockdowns überdurchschnittlich betroffen sind. Die grosszügigen Interventionen von Staaten und Notenbanken haben bisher nur an den Finanzmärkten starke Effekte gezeigt. Die Aktienbörsen haben sich deutlich erholt und die Kurse notieren auf teilweise Allzeithöchst. Währenddessen sind die Renditen für Obligationenanlagen weltweit gegen Null tendiert, in vielen Fällen notieren diese sogar im negativen Bereich. Das macht diese Anlageklasse zumindest als werterhaltende Kapitalanlage unattraktiv. Hauptprofiteure von diesem Umfeld sind demnach Aktienanleger. Diese zeichnen sich in der Regel durch überdurchschnittliche Ersparnisse aus, welche sie durch überdurchschnittliche Einkommen angehäuft haben. Es sind demnach die Reichen die reicher werden und die Armen für die die Vermögensanlage im Kapitalmarkt immer risikoreicher wird.

Diese Tatsachen gepaart mit dem Umstand, dass der Zugang zu den Aktienbörsen durch die Finanzindustrie immer einfacher und attraktiver gestaltet wird, erstaunen daher nicht, dass vermehrt Kleinanleger Anlagechancen an den Aktienbörsen wittern. Das Resultat dieser zusätzlichen Aktiennachfrage sind noch stärker steigende Aktienpreise und damit ein zunehmendes Risiko in Bezug auf eine Börsenkorrektur. Dieses Risiko scheint aufgrund der fehlenden Anlagealternativen zunehmend unbeachtet. Zudem: Wie sollen sich Kleinanleger vor dem weiter zunehmenden Ungleichgewicht bei der Vermögensverteilung schützen? – Es bleibt ihnen quasi nur der Schritt ins Risiko und damit der Teilnahme am Aktienbörsen-Casino.

Die Robinhooders unter den Anlegern adressieren damit ein Problem, das viele andere Menschen auch herausfordert. Das zunehmende Ungleichgewicht bei der Einkommen- und Vermögensverteilung führt dazu, dass Menschen ins Risiko gehen und sich somit veranlasst sehen sich zu exponieren. Die Art und Weise kann viele Ausprägungen haben: Börsenmanifest, Ausdruck von Unzufriedenheit in sozialen Medien, Kritik an Politik und Behördentum, verbale Schuldzuweisungen oder eine abnehmende Bereitschaft kontroverse Themen und Standpunkte konstruktiv zu diskutieren. Begleitet werden die Ausdrucksweisen häufig von Forderungen das Wirtschaftssystem zu ändern.

Systemänderungen sind an und für sich ein permanenter Prozess. Speziell herausfordernd sind Systemänderungen aber dann, wenn es sich um deutlich spürbare, sozusagen fundamentale Anpassungen, handelt. Es scheint, dass wir als Gesellschaft vor solchen fundamentalen Anpassungen stehen. Diese müssen wir nun aktiv angehen. Und zwar im Bewusstsein und in der Ehrlichkeit, dass es zumindest relativ betrachtet zu Gewinnern und Verlierern kommen wird. Wichtig ist dabei aber zu verstehen, dass durch diese Anpassungen letztendlich alle profitieren. Mit grosser Wahrscheinlichkeit müssen die aktuell sehr privilegierten Menschen zugunsten der aktuell weniger privilegierten etwas an Reichtum abgeben. Letztendlich sprechen wir von Umverteilung, welcher dieses Mal ein Richtungswechsel zugrunde liegt. Je rascher und konsequenter wir diese Systemanpassungen (welche aus vielen Einzelmassnahmen bestehen) angehen desto zuversichtlicher dürfen wir geografischen, politischen, wirtschaftlichen und letztendlich gesellschaftlichen Herausforderungen entgegensehen. Auf diese Weise bewahren wir letztendlich auch die Voraussetzungen für ein Zusammenleben geprägt von Eigenverantwortung. Jeder Einzelne kann einen Beitrag zu offensichtlich notwendigen Systemanpassungen leisten – packen wir’s an!

3. Februar 2021

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